Die Kastration beim Hund – ein Paradigmenwechsel

16.10.2014
Von Dr. Ralph Rückert, Tierarzt, Ulm

Ich gehöre zu einer Generation von Tierärzten, der beigebracht wurde, eher beiläufig und ohne großes Nachdenken alles zu kastrieren, was nicht bei Drei auf dem Baum ist. Für einige Tierarten ist das auch nach wie vor der einzig gangbare Weg. Katzen beiderlei Geschlechts werden nun einmal erst durch die Kastration zu Haustieren. Auch Kaninchen und einige Nager können unkastriert eigentlich nicht artgerecht gehalten werden. Beim Hund waren wir aber bezüglich der Kastration nie in einer echten Zwangslage. Man kann mit entsprechendem Aufwand selbstverständlich intakte Rüden und Hündinnen völlig artgerecht halten. Andere Gründe waren ausschlaggebend: Die Prophylaxe verschiedener Erkrankungen, verhaltensmedizinische Probleme und die generelle Erleichterung der Haltung für den Besitzer. Den Vorteil der Unfruchtbarmachung hat man eher nebenbei mitgenommen. Wir lebten in der Überzeugung, dass wir den Hunden auf jeden Fall etwas Gutes tun. Diesbezüglich wird uns aber nun gerade der Teppich unter den Füßen weggezogen! Wenn Sie es irgendwo laut krachen hören, könnte das der Aufprall unseres kollektiven tiermedizinischen Hinterns auf dem Boden sein.
Es ist nicht so, dass ich nicht schon seit einigen Jahren die Glocken hätte läuten hören. Immer wieder kamen Studien heraus, die den Verdacht nährten, dass die Nebenwirkungen der Kastration des Hundes bei beiden Geschlechtern weit über das hinausgingen, was wir bisher für gegeben erachtet hatten. Es handelte sich aber erstmal nur um einzelne Veröffentlichungen, die teilweise auch gleich wieder mit Gegenstudien angegriffen wurden. Nun sind aber erste sogenannte Metaanalysen im Umlauf, also Arbeiten, die die Ergebnisse mehrerer Studien zu einem Thema zusammenfassen. Auch deren Folgerungen sind nach wie vor beileibe nicht unumstritten, aber es zeichnet sich doch ein klarer Trend ab, auf den ich als Praktiker an der Front reagieren muss.

Prof. Dr. Börne aus dem Münsteraner Tatort-Team sagte in der letzten Folge sinngemäß: Feste Überzeugungen sind was für schlechte Ärzte, Heilpraktiker und Taxifahrer! Er hat auf jeden Fall damit recht, dass gute Mediziner sich immer darüber im Klaren sein müssen, dass die Medizin eine Wissenschaft ist und dass die Wissenschaft nicht stillsteht. Das kann manchmal, so erschreckend das sowohl für Arzt als auch Patienten sein mag, zu einem recht abrupt wirkenden Kurswechsel führen. Und genau so etwas kündigt sich jetzt bezüglich der Hundekastration an.

Was haben wir bisher als Tatsachen gesehen? Trennen wir es mal der Übersichtlichkeit halber nach Geschlecht auf und fangen wir mit der Hündin an. Während unserer immer schon sehr ausführlichen Kastrationsberatung wurden Besitzer von Hündinnen seit jeher auf die folgenden Risiken hingewiesen:
-Harninkontinenz (Harnträufeln), das um so wahrscheinlicher auftritt, je schwerer die Hündin wird.
-Fellveränderungen (Baby- oder Wollfell), sehr häufig auftretend bei langhaarigen Rassen.
-Fettleibigkeit, die vor allem dann entsteht, wenn die Fütterung nicht an den reduzierten Kalorienbedarf nach einer Kastration angepasst wird.
-Seit einigen Jahren weisen wir auch auf unsere persönliche Erfahrung hin, dass die unter Hunden weit verbreitete Schilddrüsen-Unterfunktion (Hypothyreose) so gut wie ausschließlich bei kastrierten Tieren festgestellt wird.

Das war’s aber auch schon. Was haben wir als Vorteile erwähnt?
-Keine Läufigkeit mehr (keine Blutung, keine ungewollte Fortpflanzung)
-Je nach Zeitpunkt der Kastration so gut wie vollständige Verhinderung von Mammatumoren (Brustkrebs)
-Definitive Vermeidung von Eierstock-Tumoren und der Gebärmutter-Vereiterung (Pyometra)
-Stabilisierung der Psyche durch Vermeidung starker hormoneller Schwankungen im Rahmen der Läufigkeit, allerdings mit der Einschränkung, dass bei manchen Hündinnen nach der Kastration ein gewisser Testosteron-Überhang entsteht, was die Hündin insgesamt männlich-grimmiger machen kann.

Auch das Für und Wider der im angloamerikanischen Kulturraum so weit verbreiteten Frühkastration (vor der ersten Läufigkeit) wurde besprochen. Ich bilde mir ein, dass ich nie einen Hündinnen-Besitzer zu etwas gedrängt habe. Mir war immer wichtig, dass der Verantwortliche in möglichst umfassender Kenntnis der aktuellen Faktenlage eine Entscheidung trifft und dann deren Vor- und Nachteile akzeptiert.

Beim Rüden war die Kastration immer eine Kann-aber-muss-nicht-Geschichte. Die krankheitsverhütenden Auswirkungen waren recht überschaubar, die Nebenwirkungen auch.
Nachteile:
-Auch beim Rüden tritt gelegentlich Harninkontinenz auf, aber viel seltener als bei der Hündin.
-Das gleiche gilt für Fellveränderungen.
-Das Problem des verringerten Kalorienbedarfs besteht völlig analog zur Hündin, also werden Rüden, die nach der Kastration die gleiche Futtermenge wie zuvor bekommen, ebenso fettleibig.
-Ebenfalls wie bei der Hündin stellen wir Schilddrüsenunterfunktionen eigentlich nur bei kastrierten Tieren fest.
Bezüglich der Vorteile lag die Hauptbetonung immer auf einer vom Besitzer erhofften Modifikation des typischen Rüdenverhaltens (Markieren, sexuell motivierte Aggression, Streunen, etc.). Von einer krankheitsverhütenden Wirkung ging man aus bezüglich:
-Hodentumoren (logisch!)
-Prostatatumoren
-Gutartiger Prostatavergrößerung
-Perianaltumoren

Auch in dieser Frage haben wir keinen Besitzer zu irgendetwas gedrängt, sondern eine eigene, auf Fakten beruhende Entscheidung gefördert. Allerdings sind wir seit der Markteinführung des Suprelorin-Implantates, das einen Rüden für eine bestimmte Zeit hormonell und reversibel – sozusagen auf Probe – kastriert, auch in Bezug auf diese Operation sehr zurückhaltend geworden.

Insgesamt kann man sagen, dass wir bei beiden Geschlechtern bis vor einiger Zeit der Ansicht waren, dass die Vorteile die Nachteile eher überwiegen. Wir haben diesen Standpunkt nicht nur vertreten, sondern durchaus selbst befolgt. Unsere Ridgeback-Hündin Nandi, die vor vier Jahren gestorben ist, war kastriert. Laurin, der jetzt zehn Jahre alte Rüde unserer Tochter, ist ebenfalls kastriert. Unser jetziger Hund, der vier Jahre alte Terrier-Rüde Nogger, ist es dagegen nicht. Was hat sich geändert? Ich muss dazu etwas weiter ausholen, bitte halten Sie durch!

Ich behaupte, dass die Tiermedizin als Wissenschaft sich zu lange auf sehr alten Studien zu dieser Thematik ausgeruht hat. Viele der Daten, mit denen wir argumentiert haben, stammen aus den Siebziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts. In letzter Zeit aber setzt sich in der medizinischen Wissenschaft ein neues Denken durch, die sogenannte Evidenzbasiertheit, was (vereinfacht) bedeutet, dass sich möglichst jede medizinische Vorgehensweise auf tatsächlich beweisbare Fakten stützen sollte. Dementsprechend wird momentan alles in Frage gestellt, was immer schon als Tatsache galt, aber nie so richtig bewiesen wurde. So wuchs auch der Drang der Forscher, das alte Thema der Kastration erneut aufzugreifen. Wie weiter oben schon erwähnt: Zuerst waren es einzelne und stark in Zweifel gezogene Studien, die zur Veröffentlichung kamen und noch keinen echten Anlass für einen Kurswechsel darstellten. Inzwischen verdichtet sich die Datenlage aber derart, dass man sie nicht mehr ignorieren kann.

Was ist jetzt das Problem, fragen Sie? Das Hauptproblem, mit einem Wort ausgedrückt, ist Krebs! Mit der Kastration wird einerseits das Auftreten bestimmter Tumore verhindert, andererseits aber steigt das Risiko für andere Krebsarten, und zwar wahrscheinlich so deutlich, dass das gesamte bisherige Kastrationskonzept in Frage gestellt wird. Einer der wichtigsten Grundsätze der Medizin lautet: Nihil nocere! Niemals schaden! Für mich sieht es inzwischen fast so aus, als ob man einen Hund nicht mehr ohne strengste Indikationsstellung kastrieren könnte, ohne diesen Grundsatz zu verletzen.

Eine der umfassendsten und bezüglich der Fallzahlen beeindruckendsten Arbeiten zu dem Thema ist für mich „Evaluation of the risk and age of onset of cancer and behavioral disorders in gonadectomized Vizslas (Risiko und Erkrankungsbeginn von Krebs und Verhaltensstörungen bei kastrierten Vizslas)“. In dieser im Februar diesen Jahres im angesehenen Journal of the American Veterinary Medical Association veröffentlichten Studie greift die Kollegin Christine Zink auf die Daten von 2505 (!) ungarischen Vorstehhunden (Magyar Vizsla) zurück. Es macht im Rahmen eines Blog-Artikels wie diesem keinen Sinn, detailliert auf Kollegin Zinks Ergebnisse einzugehen, aber alles in allem muss man feststellen, dass kastrierte Tiere beiderlei Geschlechts ein teilweise um ein Mehrfaches erhöhtes Risiko aufwiesen, an bestimmten Krebsarten (Mastzelltumore, Hämangiosarkom, Lymphosarkom) zu erkranken, und das auch noch zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als intakte Artgenossen. Auch bestimmte Verhaltensstörungen, vor allem die Angst vor Gewittern, kamen bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vor. Andere Studien belegen, dass das Risiko für die Entwicklung eines Osteosarkoms (Knochenkrebs) für kastrierte Hunde um das drei- bis vierfache erhöht ist. Selbst die Datenlage zur Verhinderung von Gesäugetumoren durch die Kastration steht unter Beschuss. Und bösartige Prostatatumoren beim Rüden treten bei Kastraten nicht seltener, sondern häufiger auf!
Insgesamt wird die erhöhte Anfälligkeit für Tumorerkrankungen aktuell mit einer durch den Wegfall der Geschlechtshormone zusammenhängenden Beeinträchtigung des Immunsystems in Zusammenhang gebracht. Dafür spricht auch, dass bei kastrierten Hunden offenbar sogar eine höhere Infektanfälligkeit nachzuweisen ist.

Besonders bedrückend ist für mich, dass eine Kastration fast sicher das Auftreten von Hämangiosarkomen, den berüchtigten Milztumoren, fördert. Ich bin auf diese Erkrankung in einem früheren Blogartikel schon einmal eingegangen. Mit dieser extrem bösartigen und gefährlichen Tumorart haben wir es bei älteren Hunden andauernd zu tun. Unsere Nandi wurde aufgrund metastasierter Milztumore eingeschläfert. Die Vorstellung, dass wir diese fiese Krankheit durch Kastration auch noch gefördert haben sollen, finde ich einfach schrecklich. Meine amerikanische Kollegin und Krebsspezialistin Alice Villalobos findet dafür einen sehr passenden Ausdruck: Earth shattering!

Damit leider nicht genug: Auch verschiedene orthopädische Probleme werden inzwischen mit der Kastration in Verbindung gebracht. Bezüglich Kreuzbandrissen scheint es bereits unumstritten festzustehen, dass diese Verletzung bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vorkommt. Es gibt aber auch Hinweise, dass sogar Hüftgelenkarthrosen bei Kastraten früher und schlimmer auftreten. Letzteres scheint aber noch nicht wirklich sicher. Ziemlich klar dagegen ist der Zusammenhang zwischen der Kastration und der häufigsten endokrinologischen Störung des älteren Hundes, der Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose).

Nachdem, wie schon erwähnt, momentan alles in Frage gestellt wird, was bisher galt, könnte man noch einige Punkte mehr aufführen, aber das bringt uns an dieser Stelle nicht weiter. Wenn wir den Grundsatz, niemals schaden zu wollen, ernst nehmen, ist es hier und jetzt Zeit für einen Kurswechsel. Wir können beim Hund nicht mehr guten Gewissens einfach so im Vorbeigehen kastrieren! Selbstverständlich wird es nach wie vor Hunde geben, die nach sorgfältigster Abwägung der individuellen Umstände trotzdem kastriert werden. Da mögen bestimmte Haltungsbedingungen (Hündin und Rüde im gleichen Haushalt) vorliegen oder gute medizinische Gründe (Perianaltumore oder eine Perinealhernie beim Rüden, chronische oder akute Gebärmuttererkrankungen bei der Hündin), die einfach keine andere Wahl lassen. Von solchen klaren Indikationen aber abgesehen werden wir in Zukunft mit Kastrationen in unserer Praxis noch zurückhaltender sein als wir es in den letzten Jahren sowieso schon waren.

Ach ja, ein letzter Punkt vielleicht noch: In letzter Zeit scheint es sich zu häufen, dass Hundetrainerinnen und Hundetrainer es sich zutrauen, speziell bei Rüden eine Kastrationsindikation zu stellen, um Erziehung und Handling zu erleichtern. Die Besitzer treten dann an uns heran mit der Bitte, den Hund zu kastrieren, weil es die Trainerin oder der Trainer so angeraten habe. Davon kann unter Berücksichtigung der erläuterten Faktenlage natürlich gar keine Rede sein! Eine sich eventuell etwas schwieriger als erwartet gestaltende Erziehung stellt zumindest in unserer Praxis keine ausreichende Begründung für diesen Eingriff dar.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass Besitzer von Hunden, die irgendwann in unserer Praxis kastriert wurden, jetzt darüber unglücklich oder gar auf uns sauer sind. Das ist einerseits auf der emotionalen Ebene ein Stück weit nachvollziehbar, andererseits kann ich den Vorwurf nur an die in der Forschung arbeitenden Stellen weitergeben. Ich bin als Praktiker von der Forschung und ihren Erkenntnissen abhängig und beileibe nicht glücklich, dass man sich bezüglich dieses Themas gute dreißig Jahre auf alten Lorbeeren ausgeruht hat. Davon abgesehen: Bitte keine Panik, dazu gibt es absolut keinen Anlass. Wenn wir beispielsweise bei einer bestimmten Tumorart von einer Verdreifachung des Risikos sprechen, klingt das im ersten Moment wirklich übel. Wenn man sich aber klar macht, dass diese Tumorart an sich nur eine Wahrscheinlichkeit von 1,5 Prozent hat, dann bedeuten die aus einer Verdreifachung des Risikos resultierenden 4,5 Prozent immer noch, dass ein ganz bestimmter Hund diesen Tumor zu 95,5 Prozent NICHT bekommen wird.

Viele, nicht zuletzt Kolleginnen und Kollegen, werden einwenden, dass ein solcher Kurswechsel langfristig auch wieder bestimmte Konsequenzen haben wird. Stimmt! Wir werden bei intakten Hündinnen eventuell wieder öfter Gesäugetumoren und ganz sicher wieder mehr Gebärmutter-Vereiterungen (Pyometren) sehen. Aber auch das ist eben eine Sache der Risikoabwägung. Ein gut aufgeklärter Besitzer wird sowohl ein Gebärmutter-Problem als auch einen Gesäugetumor frühzeitig erkennen und entsprechend beim Tierarzt vorstellen. Die Chancen einer frühen und erfolgreichen chirurgischen Intervention sind dann ganz entschieden besser als bei einem Hämangiosarkom der Milz oder gar einem Lympho- oder Osteosarkom.

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich mit dieser für meine Praxis geltenden Positionsfestlegung in das sprichwörtliche Wespennest steche, und zwar gleichermaßen bei Hundebesitzern und bei Tierärzten. Sicherlich wird es viele Praxen geben, die bereits einen vergleichbaren Standpunkt eingenommen haben, dies aber nicht per Blog-Artikel öffentlich machen. Andere Kolleginnen und Kollegen werden meine Einlassungen als viel zu vorschnell verurteilen und nach immer noch beweiskräftigeren Studien rufen. Mir geht es um zwei Punkte: In erster Linie möchte ich mit diesem Artikel meine Kunden darüber informieren, dass sich etwas Grundlegendes geändert hat. Darüber hinaus würde ich ungern erleben, dass wir, wie damals bei der Verlängerung der Impfintervalle, eine neue Entwicklung komplett verpennen, um dann 5 bis 10 Jahre hinter den Amerikanern her zu hinken.

Sobald sich der Staub etwas gelegt hat (was noch einige Zeit dauern kann), werden wir für unsere Kunden ein Aufklärungsformular verfassen, in dem alle bis zu diesem Zeitpunkt als gesichert geltenden Fakten aufgeführt sind.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert www.tierarzt-rueckert.de